Ich, Daniel Blake | Kritik (2024)

VoD: Es ist grau in Nordengland – der Himmel, die Stellwände, die Sitzmöbel. In der schlechtesten aller Welten ist ein breites Lächeln vielleicht gar nicht so kitschig, wie es klingt.

Wenn Daniel Blake lacht, dann lacht sein ganzes Gesicht - ein Lachen, das besonders in Kindern ein unmittelbares Vertrauen wachsen lässt. Wenn es darum geht, dass Hunde im eigenen Vorgarten Gassi geführt werden oder der Nachbar seinen Müll nicht ordnungsgemäß entsorgt, dann kann Daniel Blake (Dave Johns) ziemlich kratzbürstig werden – aber auch das ist nur Ausdruck einer ganz natürlichen und unaufdringlichen Autorität. Der junge Mann aus der Wohnung nebenan schaut zwar etwas genervt hinüber, nimmt dann aber sofort den Müllsack in die Hand und schleppt ihn mit büßendem Schritt die Treppen runter. Angesichts der Unverstelltheit und Warmherzigkeit, mit der der knapp sechzigjährige Daniel Menschen begegnet, kann man gar nicht anders, als ihm dieses Minimum an Ordnung in seiner allernächsten Umgebung zu gewähren.

Gesprochene Abstände

Mit Ich, Daniel Blake durchleuchtet Ken Loach ein weiteres Mal das tägliche Leben des britischen Arbeitermilieus, ein Milieu, das sich alleine schon im Dialekt ausdrückt und für das es zunächst auch kein anderes Bild braucht als dieses Klangbild: Zu Beginn des Films, noch während auf schwarzem Grund die Titel erscheinen, folgen wir einem Gespräch zwischen Daniel und einer Gesundheitsdienstleisterin, die mit ihm einen Fragenkatalog abarbeitet, auf dessen Grundlage sein Anspruch auf staatliche Pflegeleistungen erhoben wird. Vor Kurzem hatte Daniel einen Herzinfarkt, sein Arzt riet ihm eindringlich, nicht weiterzuarbeiten, und nun wird er gefragt, ob es ihm leicht falle, mit beiden Händen einen Hut aufzusetzen. In dieser ersten Szene genügt das reine Sprechen, der ins Schottische tendierende Dialekt Daniels und das empathielose, ins Robotische tendierende Idiom der Sachbearbeiterin, um den Abstand, den die verwaltete Welt zwischen die Menschen treibt, aufzufalten. Das Gespräch bewegt sich zunehmend ins Absurde, die Fragen driften von Daniels Herzproblemen ab, weg von ihm und seinen konkreten Leiden. Es hat deshalb durchaus programmatischen Charakter, dass Loach diesem Mann im Titel des Films ein „I“ vorausschickt, jenes „Ich“, das sich in den administrativen Beziehungen zwischen den Menschen zur Sozialversicherungsnummer verformte.

Welt aus grauen Stellwänden

Ein Großteil des Films spielt in solchen Verwaltungseinrichtungen. Dort sitzt man auf grauen Polstermöbeln und wartet in einer der mindestens genauso grauen Beratungsbuchten eines Großraumbüros auf seinen Termin. Überhaupt sind es höchstens Notausgangsschilder, die in diesen Räumen noch etwas Farbe spenden. Es ist ein bitteres Szenario, in das Loach seinen Protagonisten schickt, eines, in dem ihm kaum mehr übrig bleibt, als angesichts der aberwitzigen Fragen und Auflagen der Sachbearbeiter das Gesicht in der Hand zu vergraben, jenes Gesicht, dessen Lächeln doch derart Glück und Sicherheit stiftet, wenn andere Not leiden. Dabei ist Loachs Perspektive auf den Stellenwert der Menschenwürde in dieser Welt aus grauen Stellwänden sicher nicht die subtilste – dafür ist sie aber konsequent, sogar noch über das Ende dieses Gewaltmarschs durch die institutionelle Kontrolle und Schikane hinaus. Wenn Daniel in einem Akt letzten Aufbäumens das Versicherungsgebäude besprayt, seinen Namen, sein Anliegen und seine Ablehnung gegenüber der Telefonwarteschleifenmusik schriftlich kundtut, wenn er dabei um Selfies gebeten wird, von Passanten beklatscht und bejubelt, zum Helden ausgerufen wird, dann wird in dieser Szene der Working Class Hero ebenso schnell geboren, wie er von der Polizei wieder entsorgt wird.

Dann schütten wir eben den Abstand mit Gefühlen zu!

Loach glaubt nicht naiv an Auswege aus der verwalteten Welt; woran er stattdessen glaubt, und das mit einer vielleicht gar nicht so ungemäßen gefühligen Haltung, ist die Solidarität und die Freundschaft. Zwischen Daniel und der alleinerziehenden Katie (Hayley Squires), die er zusammen mit ihren kleinen Kindern im Stellwandparcours kennenlernt, entwickelt sich eine solche Freundschaft, in die vielleicht gerade deshalb derart überschüssig Gefühle investiert werden, weil sie das noch einzig verfügbare Material darstellen, mit dem der Abstand zwischen den Menschen wieder überbrückbar erscheint. Dabei entstehen, so sozialidyllisch sich diese emotionsgebauschten Beziehungen in der schlechtesten aller Welten interpretieren lassen, durchaus sehr schöne Szenen. Einmal deutet die kleine Daisy auf eine Kassette und fragt Daniel, was das denn sei. Dann legen sie sie gemeinsam in den Rekorder. „Da musst du draufdrücken“, sagt Daniel und zeigt auf die Play-Taste; „etwas fester!“, sagt er ihr, die schon empfindlichere Oberflächen gewohnt ist, dann hören sie ein Stück, ja auch noch das Lieblingsstück von Molly, Daniels verstorbener Frau – und so viel Seligkeit darf einem kitschig und ideologisch, mindestens verdächtig erscheinen, aber Loach gelingt es immerhin, seine Figuren so zu inszenieren, dass ihnen dieser fremde Verdacht hübsch egal sein dürfte.

Der Film steht bis 24.08.2023 in der 3Sat-Mediathek.

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Ich, Daniel Blake | Kritik (4)

Ich, Daniel Blake | Kritik (2024)

FAQs

What happened to Daniel Blake? ›

Upon seeing the judge and doctor who will decide his fate, Daniel becomes anxious and excuses himself to use the toilet, where he suffers another heart attack and dies. Later, Katie reads a eulogy at his public health funeral, including a speech he had intended to read at his appeal.

What is the message of I, Daniel Blake? ›

We believe in the free flow of information

Despite medical evidence and GP support, Blake is told that he is not eligible to receive state benefits. The film powerfully shows how the knotty bureaucracy of the benefits system robs claimants of their humanity and reduces them to a number.

What is the plot of I, Daniel Blake? ›

How much did I, Daniel Blake cost? ›

Famous / Successful Director, Ken Loach minimises Risk. Budget: £3.5 million. Box Office: $12 million Worldwide.

Why was I, Daniel Blake successful? ›

However, to be truly successful critically and commercially, the film's production and marketing must work in synergy together to guarantee the desired audience is reached. Ken Loach's 2016 film, I, Daniel Blake, is a perfect example of how to market a film toward people's cultural and political beliefs.

Why was I, Daniel Blake released in 2016? ›

I, Daniel Blake was released in 2016 to both widespread critical acclaim and considerable derision. 1 Like much of director Ken Loach's earlier work, the film was widely represented as a political intervention, this time into the effects of the current dismantling of the UK welfare system under austerity.

What did Daniel Blake spray paint? ›

In an act of heroic resistance, he spray-paints “I, Daniel Blake, demand my appeal date before I starve” on the side of the Jobcentre Plus building. The film, written by Paul Laverty, introduced many of us to food banks for the first time. Loach has spent his career documenting social injustice.

Who funded I, Daniel Blake? ›

I, Daniel Blake is an independent social realist film directed by renowned filmmaker Ken Loach (Kes, Raining Stones, Sweet Sixteen etc.). A UK/French co-production, it received funding from the BFI and BBC Films.

What issues does I, Daniel Blake explore? ›

I, Daniel Blake addresses contemporary British social issues such as poverty, the welfare system and the Work Capability Assessment. The film portrays a group of traditionally underrepresneted characters in Newcastle struggling in poverty to gain benefits and support.

How successful was I, Daniel Blake at the box office? ›

I, Daniel Blake (2016)
Theatrical Performance
Domestic Box Office$260,354Details
International Box Office$15,626,833Details
Worldwide Box Office$15,887,187
Home Market Performance
4 more rows

What channel is Daniel Blake on? ›

BBC Two - I, Daniel Blake.

How does I, Daniel Blake target its audience? ›

Target Audience

The audience I, Daniel Blake is targeting is mainly adults and possibly teenagers. The storyline is aimed at adults and is most likely to be understood by adults through it's issue of evolving the film around unemployment and illnesses.

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Author: Rev. Leonie Wyman

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